Buchtipp: "Das Gleichgewicht der Welt" von Rohinton Mistry

Buchtipp: "Das Gleichgewicht der Welt" von Rohinton Mistry

Es gibt Bücher, die nicht einfach nur Geschichten erzählen, sondern ganze Welten erschaffen. „Das Gleichgewicht der Welt“ von Rohinton Mistry gehört zweifellos dazu. Der 1995 erschienene Roman gilt als eines der großen Meisterwerke der modernen indischen Literatur und ist eine eindringliche, poetische wie schmerzhafte Reise durch ein Land, das zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwankt.

Mistry entführt uns in das Indien der 1970er Jahre, eine Zeit politischer Unruhe, sozialer Spannungen und wirtschaftlicher Unsicherheit. Im Zentrum stehen vier Figuren, deren Leben sich auf schicksalhafte Weise kreuzen: Dina Dalal, eine verwitwete Schneiderin, die um ihre Selbstständigkeit kämpft; Ishvar und Omprakash, zwei Schneider aus der Kaste der Gerber, die in der Stadt ihr Glück suchen; und Maneck, ein schüchterner Student aus dem Himalaya, der zwischen Tradition und Moderne hin- und hergerissen ist.

Was Mistry meisterhaft gelingt, ist das Weben eines dichten Geflechts aus individuellen Schicksalen und gesellschaftlichen Kräften. Das Private und das Politische, das Komische und das Tragische, das Zarte und das Brutale – alles existiert hier gleichzeitig, wie in einem überfüllten indischen Zugabteil. Unter der Oberfläche der alltäglichen Begegnungen brodelt ein Land, das von Ungleichheit, Gewalt und den Folgen der „Emergency“ unter Indira Gandhi geprägt ist.

Der Titel „Das Gleichgewicht der Welt“ (im englischen Original „A Fine Balance“) ist dabei mehr als nur eine poetische Metapher – er beschreibt das fragile Gleichgewicht zwischen Hoffnung und Untergang, zwischen Menschlichkeit und einer indischen Gesellschaft, die die Figuren immer wieder aufs Äußerste herausfordert.

Mistry schreibt mit einer Zärtlichkeit, die selbst in den dunkelsten Momenten spürbar bleibt. Sein Stil ist leise, aber kraftvoll, reich an Details, humorvoll und tief humanistisch. Bei aller Ernsthaftigkeit und Tragik des Inhalts, bleibt dem Buch ein gewisser, der indischen Gesellschaft eigener, kindlicher Humor bestehen. Wenn die Brutalität der Armut und Ungerechtigkeit fast unerträglich werden, werden sie durch eine unerwartet liebevolle Geste wieder neutralisiert, sodass Leser wie Figuren wieder die Kraft schöpfen können, weiterzumachen.

Leserinnen und Leser finden in diesem Roman kein einfaches Happy End, keine romantische Flucht aus der Realität. Stattdessen bietet Mistry ein Spiegelbild einer Gesellschaft, in der selbst das Überleben ein Akt des Widerstands ist. Gerade dadurch berührt das Buch so tief: weil es das Kleine, Menschliche inmitten des Großen und Unaufhaltsamen sichtbar macht.

Wer „Das Gleichgewicht der Welt“ liest, braucht Zeit – und bekommt sie zugleich geschenkt. Zeit, um nachzudenken, zu fühlen, zu verstehen. Es ist ein Roman, der nicht nur gelesen, sondern erlebt werden will. Und wer sich darauf einlässt, wird ihn so schnell nicht vergessen.

Fazit

Ein epischer, mitfühlender Roman über Menschlichkeit, Würde und den Mut, in einer ungerechten Welt weiterzuleben. Für alle, die Literatur lieben, die mehr will als nur unterhalten – die bewegen, aufrütteln und verbinden will. "Das Gleichgewicht der Welt" schafft ein Panorama des indischen Subkontinents und lässt den Leser besser verstehen, wie es in diesem uns fernen Teil der Welt zugeht.

Autor: Rohinton Mistry
Titel: Das Gleichgewicht der Welt
Originaltitel: A Fine Balance
Erschienen: 1995 (deutsch bei Blessing Verlag)
Umfang: ca. 950 Seiten

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